News & Facts Kapitel 17

 

 

Ein seltenes "Chest-Microscope" aus Stuttgart

 

 

1. Leben und Werkstatt von J. H. Tiedemann

 

Johann Heinrich Tiedemann (1742 - 1811) begründete die Tradition der Hersteller wissenschaftlicher Instrumente in Stuttgart. Zunächst sollen seine Person und sein Werdegang beschrieben werden, ehe eine Darstellung eines seiner Mikroskope erfolgt. Bei diesem seltenen Mikroskop handelt es sich um ein "Chest-Microscope", ein in England um und vor 1800 gebräuchliches Modell. Eine Übersetzung mit "Kasten-Mikroskop" trifft es nicht, weil es viele Variationen eines auf einen Kasten montierten Mikroskops gibt.

 

J. H. Tiedemann wurde am 04.07.1742 im Herzogtum Bremen geboren. Obwohl er beruflich etwas kaufmännisches machen sollte, gab sein Vater ihn für 3 Jahre zu einem Feldmesser nach Wilster und darauf zu einem Ingenieur nach Bremervoerde. Für die Vermessungstechnik hatte er offenbar Talent. In der Folgezeit unterrichtete ihn sein Onkel in Hamburg in Pyrotechnik und Fortifikation. Der Hamburger Stadtkommandant wollte ihn schon verpflichten, doch sein Vater schickte ihn stattdessen zu einer Ausbildung als Schreiber nach Itzehoe. Er gelangte dort in den Dienst des dänischen Gesandten, Baron von Eiben. Mit diesem kam er 1865 nach Stuttgart.

 

 

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Abb. 1: Englisches Chest-Mikroskop mit kompletter Ausstattung, ca. 1780 - 1800.

 

 

Ein Jahr später heiratete Tiedemann die Tochter des dortigen Stiftsdieners, Agathe Christiane Eben, und Baron von Eiben beschaffte ihm beim Magistrat der Stadt die Stelle des Stiftsdienergehilfen. Die geringe Besoldung zwang ihn, zusätzlich Nachhilfe im Rechnen und Schreiben zu geben. Seiner eigentlichen Passion, der Mechanik und Optik, widmete er sich in den Abend- und Nachtstunden. Da baute er - als Autodidakt - die Leutmannsche Schleifmaschine und konnte nach einiger Zeit qualitativ brauchbare Gläser für optische Instrumente schleifen. Johann Georg Leutmann (1667 - 1736) war zunächst "Mechanicus" in Wittenberg und dann Professor für Mechanik und Optik in Petersburg. 1738 stellt er in seinem berühmten Buch die Glasschleifmaschine vor.

 

Schon 1767 erhielt Tiedemann von Herzog Carl Eugen (1728 - 1793) das Privileg als Hofmechaniker und Hofoptiker. Weil sein Schwiegervater verstorben war, wurde Tiedemann 1772 Stiftsdiener und erhielt damit das volle Gehalt. Nun konnte er die Nachhilfetätigkeit aufgeben und sich voll den optischen Instrumenten widmen. Er fertigte ein schweres und großes Teleskop, welches er seinem Herzog vorführte. Daraufhin wurde Tiedemann von diesem finanziell unterstützt und sein Haus mit der freien Wohnung wurde um eine Werkstatt erweitert. Nun war er an seinem Ziel angekommen und stellte Glasschleifer, Mechaniker und Dreher ein. Nach einigen Jahren waren 8 Personen beschäftigt. Auch seine Tochter Christiana Wilhelmine (1774 - ?) schliff Linsen für Objektive und Okulare. Die Erzeugnisse gingen in die umliegenden Länder wie Schweiz, Frankreich, Österreich und in deutsche Kleinstaaten; aber auch in Dänemark und Lettland ergab sich eine Nachfrage nach seinen Produkten.

 

 

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Abb. 2: Das Mikroskop wird bei Gebrauch aus dem Kasten herausgeklappt.

 

 

1775 starb seine erste Frau und Ende des gleichen Jahres heiratete er Louise Wilhelmina Ritter (1753 - 1814). Aus dieser Ehe gingen mehrere Kinder hervor; es scheint, dass sich keiner seiner Söhne für die Tätigkeit als sein Nachfolger interessierte.

 

1785 veröffentlichte Tiedemann sein Buch "Beschreibung der von ihm verfertigten achromatischen Fernröhren, zusammen gesetzte Vergrößerungsgläser und andere zur Mathematik und Physik gehörige Werkzeuge". Dieses kleine Buch war gleichzeitig seine Preisliste. Das Angebot umfasst neben Spiegel- und achromatischen Teleskopen, einfache und zusammengesetzte Mikroskope, Solarmikroskope, Camera Obscura, verschiedene geodätische Instrumente, Sextanten, Gläser aller Art für Brillen, Lorgnetten und andere Zwecke und viele weitere Instrumente.

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Abb. 3: Aufwändig verarbeiteter Mahagonikasten des englischen Mikroskops.

 

 

Wilhelm Gottlob Benjamin Baumann (1772 - 1849) hatte bis 1794 bei Tiedemann gearbeitet. Von 1794 bis 1798 besuchte er England - zu der Zeit führend im Bau wissenschaftlicher Instrumente - und arbeitete u. a. in der Werkstatt von Jesse Ramsden, einem führenden Hersteller von mathematischen Instrumenten. Baumann machte sich in Stuttgart 1798 als "Opticus" und "Mechanicus" selbständig. Diese Werkstatt fertigte u. a. Mikroskope und Teleskope und existierte bis 1836.

 

 

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Abb. 4: Das Chest-Mikroskop von J. H. Tiedemann, ca. 1780 - 1810.

 

 

Johann Conrad Pilgram (1771 - 1840) arbeitete seit 1894 bei Tiedemann. 1800 fand seine Hochzeit mit Christiana Wilhelmine Tiedemann statt. Er war damit der designierte Nachfolger Tiedemanns.

 

Wie eng die Werkstätten in der Vergangenheit verzahnt waren, zeigt sich im Folgenden. Johann Friedrich Voigtländer (1779 - 1854) aus Wien arbeitete bis 1803 für 18 Monate als Geselle bei Baumann. 1807 heiratete er Franziska Tiedemann (1780 - ?), die zweitälteste Tochter von J. H. Tiedemann. Er ging mit ihr nach Wien zurück, um die 1763 gegründete "Werkstatt für Mathematische Instrumente" seines Vaters, Johann Christoph Voigtländer (1732 - 1797), zu übernehmen und auszubauen. Ihr gemeinsamer Sohn, Peter Wilhelm Friedrich Voigtländer (1812 - 1878), zog 1868 nach Braunschweig und gründete dort die spätere Voigtländer AG.

 

 

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Abb. 5: Das Mikroskop von J. H. Tiedemann im Kasten.

 

 

Auf dem Weg zu seinem Verleger Cotta in Tübingen besuchte Johann Wolfgang von Goethe im August 1797 Stuttgart. Er nahm die Gelegenheit wahr, die Werkstatt von Tiedemann zu besuchen. In seinem Tagebuch heißt es: "Den 31 Nachmittag war ich beim Mechanikus Tiedemann, einem schatzbaren Arbeiter, der sich selbst gebildet hat. Mehrere Gesellen arbeiten unter ihm und er ist eigentlich nur beschäftigt seine Ferngläser zusammenzusetzen." Goethe beschreibt dabei die Schwierigkeiten beim Zusammenstellen passender Gläser; damit war offensichtlich das "Pröbeln" gemeint. Damit wird das "Herumprobieren" bezeichnet, bis eine leistungsfähige Linsenkombination für ein Objektiv oder Okular gefunden ist.

 

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Abb. 6: Die 4 vorhandenen Objektive des Tiedemannschen Mikroskops.

 

 

J. H. Tiedemann starb am 30.04.1811. Sein Schwiegersohn und Nachfolger, J. C. Pilgram , konnte das Qualitätsniveau der Werkstatt Tiedemanns offenbar nicht halten.

 

 

 

2. Das seltene Chest-Mikroskop von J. H. Tiedemann

 

Chest-Mikroskope waren im 18. Jh. in England sehr gebräuchlich und wurden von vielen Herstellern angeboten. Es gab zu der Zeit - und auch später - viele verschiedene Mikroskope, die bei Gebrauch auf ihren Kasten montiert wurden. Doch der Begriff "Chest-Microscope" war nur für die liegenden und seitlich herausklappbaren Mikroskope reserviert. Diese typisch englische Konstruktion fand bald auch auf dem Kontinent etliche Nachahmer. Weitere Exemplare dieser Art befinden sich auf der Website des Autors unter der Rubrik "Highlights".

 

 

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Abb. 7: Die Signatur des Chest-Mikroskops aus Stuttgart.

 

 

Bei einem Vergleich mit dem unsignierten englischen Vorbild fällt die einfachere innere und äußere Gestaltung des Kastens bei dem Mikroskop von Tiedemann ins Auge. Obwohl es hier nicht um einen Vergleich gehen soll, sind einige Anmerkungen zu machen. Der englische aus dunklem Mahagoniholz bestehende Kasten ist mit grünem Samt ausgelegt. Der stabile Kasten hat einen Messinggriff und lässt sich an einer Schmalseite ausklappen, damit das Mikroskop aufgerichtet werden kann. Die Kastenmaße gleichen sich fast: englisches Mikroskop 29 x 13 x 15 cm und das von Tiedemann 30 x 14 x 14 cm. Der Kasten von Tiedemann ist aus hellem Weichholz und innen nicht mit Stoff ausgelegt. Das Mikroskop hat eine Arbeitshöhe von 39 cm. Die optische Ausstattung besteht aus einem verschraubten Okular mit Zwischenlinse und 4 (von ursprünglich 6) nummerierten Objektiven. Die Grob- und Feineinstellung erfolgt per Zahnstange und einem Triebrad, indem der Tisch sich in der Höhe bewegt. Das englische Mikroskop hat zwar auch keine separate Feineinstellung, aber mit der langen, senkrechten Rändelschraube lässt sich die Einstellung präziser vornehmen.

 

 

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Abb. 8: Der Kasten des Mikroskops von J. H. Tiedemannmann ist nicht aus Mahagoni.

 

 

Neben einer Lebendzelle und einer Pinzette gehört zum Gerät von Tiede noch ein bonanniähnlicher "Springtisch". Diese Tische waren im 18 Jh. beliebt zum Einklemmen der Präparate. Meines Wissens gibt es überhaupt nur 2 Abbildungen eines Chest-Mikroskops von Tiedemann. Die eine findet sich in dem kleinen Buch von ihm, welches gleichzeitig seine Preisliste war (vgl. Quelle 3). Und die zweite Abbildung findet sich in der Enzyklopädie von Krünitz (Quelle 2). Dieser Stich von 1803 wird in Abbildung 9 gezeigt. Neben dem hier vorgestellten Chest-Mikoskop von Tiedemann kenne ich noch 2 gleiche Instrumente, die sich in Privatsammlungen befinden. Es dürften nach grober Schätzung keine 2 Dutzend vergleichbare Mikroskope von Tiedemann weltweit existieren.

 

 

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Abb. 9: Das Tiedemann-Mikroskop aus der Krünitz-Enzyklopädie von 1803.

 

 

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Verwendete Quellen:

1. Bibra, Sigmund: Opticus und Mechanicus Tiedemann Stiftsmesner zu Stuttgart. Deutsches Journal von und für Deutschland, 1789, S. 136 - 139.

 

2. Krünitz, J. G.: Oeconomische Encyklopädie; Teil 90 von Meth bis Minderzwickel, Berlin 1903, Stichwort Mikroskop von S. 242 bis 329.

 

3. Tiedemann, Johann Heinrich: Beschreibung der von ihm verfertigten achromatischen Fernröhren, zusammen gesetzter Vergrößerungsgläser und andere zur Mathematik und Physik gehörige Werkzeuge, nebst 2 Kupfertafeln, Stuttgart, Johann Benedict Mezler, 1785.

 

4. Trierenberg, Andor: Die Hof- und Universitätsmechaniker im Württemberg im frühen 19. Jahrhundert. Dissertation, Historisches Institut der Universität, Stuttgart 2013.

 

5. Zehm Edith: Johann Wolfgang von Goethe Tagebücher Bd. II, 1790 - 1800, Stuttgart Weimar, Metzler, 2000.

 

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(copyright Björn U. Kambeck, 01/2021)